Die Arbeitswelt steht vor tiefgreifenden Veränderungen durch digitale Technologien, insbesondere durch den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI). Eine wissenschaftliche Arbeit hat dabei ganz besonders mediale Aufmerksamkeit erregt: Dr. Carl Benedikt Frey und Dr. Michael Osborne von der Universität Oxford kamen 2017 zu dem Ergebnis, dass 47% aller Arbeitstätigkeiten, die in den USA ausgeführt werden, automatisiert werden können. Übertragen auf Deutschland hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales errechnet, dass 42 % der Beschäftigten in Deutschland in Berufen mit einer hohen Automatisierungswahrscheinlichkeit arbeiten. Durch Covid wurde das Tempo der Automatisierung deutlich erhöht. Das Weltwirtschaftsforum spricht in seinem Report zur Zukunft der Arbeit daher von einer „doppelten Disruption“ durch das Zusammenspiel von Automatisierung und Pandemie. Seinen Schätzungen zufolge könnten bis 2025 rund 85 Millionen Arbeitsplätze durch eine Verschiebung der Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine verdrängt werden, aber auch 97 Millionen neue Jobs entstehen. Im Großen und Ganzen würden weltweit demnach mehr Jobs entstehen als verloren gehen, doch ist das Zeitfenster zur Umschulung und adäquaten Vorbereitung von Arbeitnehmer*innen durch diesen Doppeleffekt auf wenige Jahre geschrumpft. Das Weltwirtschaftsforum geht davon aus, dass 50% aller Arbeitnehmer*innen eine Form von Umschulung benötigen werden. Selbst bei Arbeitnehmer*innen, die voraussichtlich in ihrer Funktion bleiben können, beträgt der Anteil der Kernkompetenzen, der sich in den nächsten fünf Jahren ändern wird, Schätzungen zufolge bis zu 40 %.
Doch wie werden diese Entwicklungen von der arbeitenden Bevölkerung wahrgenommen? In diesem Blogartikel geht Algoright der Frage nach, inwiefern es unter Arbeitnehmer*innen ein Bewusstsein dafür gibt, wie KI ihr persönliches Berufsfeld verändern könnte und wie die Politik sowie Arbeitgeber darauf reagieren können.
Wir von der Forschungsgruppe Arbeits-, Organisations- und Personalpsychologie an der KU Leuven (Belgien), in Zussamenarbeit mit dem Institut für Bevölkerungsalterung der Universität von Oxford Großbritannien), haben hierfür einen neu-entwickelten Fragebogen verwendet, um zu messen, inwieweit Arbeitnehmer*innen befürchten, dass ihr Beruf durch die Automatisierung verschwinden oder sich erheblich verändern könnte. Dabei ist es wichtig, einen “Job” von einem “Beruf” zu unterscheiden: Ein “Job” ist eine spezifische Rolle innerhalb einer bestimmten Organisation, während man für seinen “Beruf” speziell ausgebildet und trainiert wurde. So ist beispielsweise die Tätigkeit eines Kellners in einem bestimmten Restaurant ein Job. Wenn der Kellner entlassen würde, könnte er immer noch in einem anderen Restaurant arbeiten. Wenn Kellner jedoch zunehmend durch Selbstbestellungsmaschinen ersetzt werden, muss die betreffende Person möglicherweise eine Umschulung absolvieren und einen anderen Beruf erlernen. Wenn man sieht, dass in seinem Beruf immer mehr automatisiert wird, kann das die Wahrnehmung von Berufsunsicherheit verstärken.
Wir können zwischen zwei Arten von Berufsunsicherheit unterscheiden: globale und inhaltliche Berufsunsicherheit. Eine Person erlebt globale Berufsunsicherheit, wenn sie befürchtet, dass der Beruf als Ganzes durch Automatisierung zu verschwinden droht. Der weit verbreitete Einsatz von automatisierten Kassen in Supermärkten ermöglicht es Einzelhändlern beispielsweise, menschliche Kassierer durch Maschinen zu ersetzen. Ein weiteres Beispiel ist das Aufkommen selbstfahrender Autos, das das Potenzial hat, die Transportbranche zu verändern und auf lange Sicht Berufskraftfahrer arbeitslos zu machen.
Im Gegensatz dazu bezieht sich die inhaltliche Berufsunsicherheit auf die Befürchtung, dass die Automatisierung zu erheblichen Veränderungen von Aufgaben und Verantwortlichkeiten innerhalb dieses Berufs führen könnten. So hat beispielsweise der zunehmende Einsatz von Robotern in der Fertigung zu Veränderungen bei den Aufgaben der menschlichen Arbeitskräfte geführt. Anstatt repetitive Aufgaben am Fließband auszuführen, werden von den Arbeitnehmern möglicherweise Aufgaben verlangt, die speziellere Fähigkeiten erfordern, wie die Programmierung und Wartung der Roboter. Während diese Veränderungen zu lohnenderen und weniger langweiligen Tätigkeiten führen können, haben die Arbeitnehmer*innen möglicherweise Angst, dass sie nicht die richtigen Fähigkeiten besitzen, um mit diesen Veränderungen umzugehen.
Die neu entwickelte Skala zur Berufsunsicherheit (OCIS) misst sowohl globale als auch inhaltliche Berufsunsicherheit. Sie kann in verschiedenen Sprachen von dieser Website heruntergeladen werden: www.occupationinsecurity.com.
Für ein Projekt an der KU Leuven (Belgien) in Zusammenarbeit mit der Universität Oxford wurde OCIS genutzt, um Fragebögen von 988 Arbeitnehmer*innen in Deutschland zu sammeln. Die Daten waren repräsentativ in Bezug auf Alter, Geschlecht und Region in Deutschland. Wie man Grafik 1 unten entnehmen kann, gaben 8,2 % der Arbeitnehmer*innen globale Berufsunsicherheit an, während ganze 34,4% inhaltliche Berufsunsicherheit zeigten. Auf die Frage, ob sie erwarteten, dass ihre Berufe kurz- oder langfristig verschwinden würden, glaubten 5 %, dass ihre Berufe in 1-2 Jahren verschwinden würden und 7,4 %, dass ihre Berufe wahrscheinlich innerhalb von 5-10 Jahren verschwinden würden (Grafik 2). Anders sieht es aus, wenn es um die Veränderung von Berufen durch Automatisierung geht: 28,9% stimmten zu, dass sich ihr Beruf aufgrund technologischer Entwicklungen erheblich verändern würde. Insgesamt 24,4% sind der Meinung, dass sie ihre Berufe nur dann weiter ausüben können, wenn sie zusätzliche Ausbildung im Bereich von Automatisierung und KI erhalten.
Des Weiteren zeigten die Ergebnisse, dass Männer eher unter inhaltlicher Berufsunsicherheit leiden als Frauen. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass viele traditionell frauendominierte Berufe wie das Bildungs- und Gesundheitswesen weniger anfällig sind für Automatisierung. Allerdings gab es in Bezug auf globale Berufsunsicherheit keine signifikanten Unterschiede zwischen Männer und Frauen (Bemerkung: für eine Auswertung anderer Geschlechterkategorien hatten wir leider nicht genügend Daten). Bei dem Bildungsniveau gab es auch keine signifikanten Unterschiede, was darauf zurückzuführen sein könnte, dass die überwiegende Anzahl Teilnehmer in unserer Studie Abitur/Fachhochschulreife oder einen höheren Abschluss hatte. Schließlich haben die jüngeren und mittleren Generationen (18-49 Jahre), anders als man erwarten könnte, mehr inhaltliche und globale Berufsunsicherheit als die älteren (50-65 Jahre). Die älteren Generationen könnten glauben, dass sie “vom Ruhestand gerettet” werden, bevor sie sich mit den Veränderungen durch Automatisierung auseinandersetzen müssen. Darüber hinaus befinden sich Arbeitnehmer älterer Generationen öfter in stabileren Arbeitsverhältnissen von längerer Dauer, wodurch sie im Vergleich zu ihren jüngeren Kollegen weniger an die Notwendigkeit gewöhnt sein könnten, sich regelmäßig weiterzubilden.
Sowohl globale als auch inhaltliche Berufsunsicherheit waren mit einem höheren Burnout-Niveau und geringerer Arbeitszufriedenheit, geringerem Arbeitsengagement, schlechterer körperlicher und geistiger Gesundheit sowie schlechterer selbst eingeschätzter Arbeitsleistung verbunden. Daher ist es wichtig, dass sich politische Entscheidungsträger, Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam mit diesem Problem befassen und Wege finden, die negativen Auswirkungen abzumildern. Die Regierung kann Maßnahmen ergreifen, um Bildungsprogramme in Bereichen zu fördern, in denen eine Automatisierung weniger wahrscheinlich ist, sowie Arbeitsvermittlungsdienste, die Arbeitnehmern beim Übergang in neue Berufe helfen. Auch Unternehmen können eine wichtige Rolle spielen, indem sie in ihre Mitarbeiter investieren und Möglichkeiten zur Weiterbildung und Qualifizierung anbieten. Für die einzelne Person ist es von größter Bedeutung, ihre Fähigkeiten laufend zu aktualisieren und im Hinblick auf Automatisierung zu erweitern.
Danksagung: Diese Forschung wurde durch das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 der Europäischen Union unter der Marie-Sklodowska-Curie-Zuschussvereinbarung Nr. 896341 finanziert.
Bei Fragen und Kommentaren wenden Sie sich gerne an: Lara Roll, lara.roll@algoright.de