Während in den sozialen Medien weiterhin der Konflikt schwelt, ob dem Zeitalter der Digitalität personalisiertes Lernen mithilfe von Learning Analytics oder doch eher Projektarbeit angemessen ist, ziehen derzeit vor allem Pilotprojekte die Aufmerksamkeit auf sich und werden als Best Practices präsentiert und anschließend kontrovers diskutiert. Welche Potenziale und welche Hindernisse lassen sich anhand solcher Projekte erkennen? Wie können sie den Schulen den Weg in die digitale Realität weisen? Diesen Fragen durfte ich auf der Didcata in Köln nachgehen. Konkret ging es dabei um die Präsentation eines 360°-Film-Projekts zu den 17 Nachhaltigkeitszielen der UN, in dem sich Schüler*innen anwendungsnah mit dem 360°-Filmen und den sogenannten “Sustainable Development Goals” auseinandersetzten.

Ein Beitrag von Torsten Becker

Die Vorgeschichte

The Sustainable Development Goals © UN

Die nachfolgenden Erkenntnisse verdanke ich vor allem meinen Schülerinnen und Schülern. Denn sie waren es, die sich auf eine Anfrage des Zentrums für Medienbildung und des Zentrums Bildung für nachhaltige Entwicklung im Saarland eingelassen haben. Anlass für diese Anfrage war eine internationale Initiative der UN im Rahmen der Action Campaign zu den 17 Nachhaltigkeitszielen. Wir nahmen also die Herausforderung an und standen ab sofort via Mail und Videochat mit Lisa Jobson von Digital Promise in Kontakt. Zusammen mit Oculus war sie es in erster Linie, die uns mit Arbeitsmaterial und Ideen unterstützte.

 

Das Projekt

Motiviert durch die Tatsache, dass einige meiner Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe 11 das Fach Darstellendes Spiel als Wahlpflichtfach gewählt hatten und meine Kollegin Nicole Schmitt offen für eine Kooperation war, wurde das Projekt fachübergreifend angelegt. Während sich die Gruppe in Darstellendem Spiel mit der technischen Herausforderung des 360°-Filmens auseinandersetze, begann meine Religionsgruppe mit einer Analyse des Themas „Nachhaltigkeit“. Nach dem Sammeln eigener Vorstellungen einer nachhaltigen Welt, schloss sich eine Recherchephase an. Die eigenen Vorstellungen wurde danach verschlagwortet und den 17 Nachhaltigkeitszielen zugeordnet. Abschließend folgte auf Grundlage eines Schüler*innenvotums eine Schwerpunktsetzung auf die Nachhaltigkeitsziele “Gesundheit und Wohlergehen” (3), “Hochwertige Bildung” (4), “Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum” (8), “Weniger Ungleichheiten”(10) und “Nachhaltiger Konsum und Produktion” (12). Die Gruppe in Darstellendes Spiel begann derweil bereits mit ersten Testaufnahmen, die die Themen “Orientierung” und “360°” technisch und inhaltlich in Form einer Improvisation umsetzten.

Im Zusammentreffen der Gruppen nach zwei Wochen Vorbereitungen wurde verschiedene Umsetzungsmöglichkeiten sowohl inhaltlich, als auch technisch und dramaturgisch diskutiert. Die Schülerinnen und Schüler erweiterten oder verwarfen schnell die Vorschläge, die Nicole und ich anfangs als Rahmenhandlung in der Hinterhand hatten. Entstanden sind zwei Filme, von denen es einer – neben fünf weiteren Wettbewerbsfilmen – zur Generalversammlung der UN nach New York geschafft hat.


Erfahrungen mit der Durchführung

Der Projektverlauf. Grafik: Torsten Becker

Aus Perspektive des Lehrers kann ich nur von einem motivierenden Lernszenario sprechen, das sich selbstredend den üblichen Hürden und Problemen der Projektarbeit stellen musste. Neben der notwendigen Perspektive auf die individuellen Leistungen sollte auch die Gemeinschaftsleistung hinreichend gewürdigt werden. Von einer erfolgreichen Produkterstellung kann gleichwohl im Schulkontext nicht immer ausgegangen werden. Der Prozess der Projektarbeit bietet die Chance, die Lernenden mit wichtigen Erfahrungen und Phasen des Projektmanagements zu konfrontieren und lässt Schule aus der Isolation des Schutzraums heraustreten.

Dass selbst die Rahmenbedingungen eines Projektes das aktuelle Schulsystem zur Erschütterung bringen können, zeigt die unfreiwillig vertiefte Beschäftigung mit rechtlichen Fragen. Nachdem während der Abschlussphase die gesellschaftliche Diskussion über die DSGVO entbrannte, wurde häufig von einer Veröffentlichung aufgrund der rechtlich ungeklärten Lage abgeraten oder zumindest zur Vertagung geraten. Hieran sieht man, weshalb gerade eine multiperspektivische und gut vernetzte Arbeitsweise über die Schule hinaus überfällig ist. Ohne eine beherzte Initiative aller Teilnehmer*innen, wäre das Projekt aufgrund rechtlicher Bedenken kurz vor der Veröffentlichung gekippt. Die Guy-Fawkes-Masken sind somit zugleich Sinnbild für scheinbare Anonymität in sozialen Netzwerken als auch Notbehelf und stiller Protest. Der Wunsch der Schülerinnen und Schüler, in zukünftigen Projekten mehr Zeit für die technische Nachbearbeitung zur Verfügung zu haben, zeigt zum einen das Interesse an fachübergreifender Projektarbeit und zum anderen die Nachfrage im Bereich der Digitalität.

 

Vermittlungsziele und curriculare Verortung

Da es ohnehin Probleme gab, die Themen im jeweiligen Lehrplan zu verorten, wählten wir in erster Linie die „Kompetenzen in der digitalen Welt“ der KMK als Referenzmodell, da diese auch im Medienkonzept der Schule berücksichtigt werden. Der Abgleich zwischen der KMK Strategien und den Handlungsfeldern der Projektarbeit zeigt eindrücklich, wie nah die Ziele hierbei zusammenliegen bzw. wie weit das Spektrum im Projektarbeit-Szenario abgedeckt wird.

(Schnittmenge mit den KMK-Ziele: 1.1-1.3, 2.3, 3.1-3.3, 4.2-4.3, 5.1-5.4, 6)

Klar zu unterstreichen ist, dass man nach einem Projekt nicht davon ausgehen kann, dass die Ziele in den jeweiligen Bereichen – und v.a. nicht in dem Umfang wie sie ggf. ursprünglich angedacht waren – erreicht wurden. Diese müssen nachhaltiger und vernetzt etabliert und mehrfach angesprochen werden. Das macht ein zentrales Problem der aktuellen Bildungslandschaft sichtbar, welches wir bereits in einem früheren Artikel thematisiert haben. Weder ist klar ausdifferenziert, was Lehren und Lernen in einer digitalen Welt beinhalten sollte noch wie dieses Lehren und Lernen stattfinden soll.

Das hier beschriebene Beispiel der Projektarbeit nutzt ein fachübergreifendes, arbeitsteiliges und freies Setting mit dem Anspruch einer größtenteils selbstgesteuerten und agilen Vorgehensweise. Die Schnittmengen mit den KMK-Zielen ergeben sich überwiegend durch diesen freien Rahmen und die natürliche Integration der existierenden (auch digitalen) Möglichkeiten und der kritischen Beschäftigung mit deren Konsequenzen (beispielsweise durch die Beschäftigung mit Datenschutz und Urheberrecht). Entgegen der üblichen Vorgehensweise steht zu Beginn also nicht die genaue Festlegung inhaltlicher Lehr- und Lernziele, sondern  -überspitzt ausgedrückt – werden diese eben durch das Weglassen sonst gesetzter Rahmen erreicht. Auch wenn es, auf den ersten Blick so scheint ist dieser Vorgang dennoch nicht einer reinen Willkür ausgesetzt. Neben dem inhaltlichen Themenschwerpunkt der Nachhaltigkeitsziele, konnte ein Großteil der angesprochenen KMK-Ziele durch den meist ähnlichen Ablauf solcher Projekte vorher abgeschätzt und grob angesteuert werden.

 

Fazit

Innovative Ansätze benötigen Mut und Tatendrang. Neben dem Trend einer stärkeren Integration der Themen Big Data, Learning Analytics und personalisiertes Lernen durch KI, bildet der projektbasierte Ansatz einen wichtigen Gegenpol der Unterrichtsgestaltung. Dies gelingt, indem wichtige Softskills – wie z. B. Methoden des Projektmanagement – des zeitgemäßen Lernens berücksichtigt werden und der Schwerpunkt sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf die Wahl der Sozialform unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Partizipation gestaltet wird. Dem Einsatz von Medien liegt hierbei zwar zunächst das Verständnis eines digitalen „Werkzeugs“ zugrunde, das Setting der Öffentlichkeit und Teilhabe (auch im Sinne eines aktiven Tuns) fordert jedoch die Auseinandersetzung mit Rahmenbedingungen und teils ungelösten Fragestellungen einer digitalen Welt. Diese Erfahrungen sind grundlegend, um später in dynamischen Szenarien kompetente, wohlbegründete Entscheidungen treffen zu können. Diese Befähigung zur Entscheidung wiederum ist essentieller Bestandteil echter digitaler Mündigkeit und sollte folglich Teil eines selbstwirksamen Lernens im Zeitalter der digitalen Realität sein.

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